Was wäre, wenn… die Saar-Abstimmung 1955 anders ausgegangen wäre?
Welche Saarländerin, welcher Saarländer, zumindest meiner Generation, hat diese Frage nicht schon einmal leidenschaftlich im Freundeskreis diskutiert? Ein ganzer Film ist dazu über die letzten zehn Jahre entstanden.
Es ist müßig, darüber zu spekulieren. Entscheidend ist nicht, was hätte sein können, sondern was daraus geworden ist – und was es uns heute bedeutet.
Denn in Zeiten des Wandels und der Verunsicherung ist es ein Anker, zu wissen, wo man herkommt und welche wechselhaften, teils widersprüchlichen Entwicklungen zu diesem Heute geführt haben. Und wo uns das Morgen hinführt.

Die Saar-Abstimmung zählt ganz sicher zu diesen Widersprüchlichkeiten. Und war doch ein bis heute prägendes Ereignis für unser kleines Land.
Denn die Abstimmung war zum einen ein plebiszitärer Meilenstein auf dem siegreichen Weg der liberalen Demokratie in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Region, ein Land – kaum 35 Jahre alt – darf über seine Verfasstheit selbst entscheiden. Zumindest mit einem „Ja“ oder einem „Nein“. Denn entgegen mancher Mär stand nicht „Deutschland“ oder „Frankreich“ oder „Unabhängigkeit“ zur Abstimmung, sondern „nur“ ein Ja oder ein Nein zum europäischen Saar-Statut: also einem innenpolitisch eigenständigen Saarstaat unter außenpolitischem Patronat der jungen Westeuropäischen Union und mit enger ökonomischer Bindung zu Frankreich. Dieses Plebiszit war im Übrigen kein ganz freiwilliger Höhepunkt der Selbstbestimmung, sondern eher der Heldennotausgang für Deutschland und Frankreich, die sich – bei allem Willen zur Aussöhnung – in der Saar-Frage gegenseitig verheddert hatten.
Zum anderen war diese Abstimmung ein schauderhaftes Beispiel dafür, wie sich eine Bevölkerung – damals noch ganz ohne soziale Medien – tief und nachhaltig spaltete. Es ging um Emotionen und Machtfragen: Deutschland. Europa. Hoffmann-Regierung. Deutsche Parteien. Um Zugehörigkeiten und Abgrenzungen: Neue Europäer. Alte Nazis. Deutsche Landsleute. Französische Partner. Um Vergangenes und Zukünftiges: NS-Staat und Verfolgung. Weltkriegsniederlage und Wirtschaftswunder. Frieden und Wohlstand. Es ging gefühlt ums große Ganze.
Und so wie sich viele Saarländerinnen und Saarländer in dieser Zeit spinnefeind wurden, so gespalten verhielten sich auch die politischen Akteure auf allen Ebenen und in mehrfacher Hinsicht. Im Saarland wurden auf der einen Seite aus konservativen und sozialdemokratischen Kämpfern gegen den Faschismus plötzlich Parteien- und Gewerkschaftsverbieter. Weil sie fürchteten, das „Ja“ nicht stark genug zu machen. Auf der anderen Seite stiegen die Anhänger der neuen, jungen bundesdeutschen Demokratie von links bis rechts ins Bett mit Altnazis, mindestens aber mit nach „old style“ müffelnden Nationalliberalen, um ihrem „Nein“ Gewicht zu geben. Keiner der politischen Akteure hat sich also ungetrübt mit Ruhm bekleckert. Mit Lug und Trug, Polemik und Propaganda, Hetze und Verunglimpfung attackierten sich beide Seiten persönlich, politisch, publizistisch und rechtlich über Monate.
Man sagt, der besondere saarländische Zusammenhalt läge vor allem darin begründet, dass es sich um eine bergmännische Tugend handele, die unter Tage überlebensnotwendig war. Man sagt, der Zusammenhalt rühre daher, dass die Menschen an der Saar meist fremdbestimmt wurden – aus Berlin, Paris oder vom Gauleiter aus der Pfalz, der die Saarländer sprichwörtlich auf die Bäume jagte. Ich halte beides für richtig.
Aber ich persönlich glaube, dass dieser Zusammenhalt auch in der Negativerfahrung dieser Saar-Abstimmung begründet liegt. Die Erfahrung, dass ein Land sich in relativ kurzer Zeit so spaltet, so unversöhnlich wird – sie muss Bevölkerung und Politik danach in den Knochen gesteckt haben. In meiner Familie – alles Nein-Sager – war dies jedenfalls in meiner Kindheit in den siebziger Jahren immer wieder Thema. Und gelegentlich wurde über vermeintliche ehemalige Ja-Sager, denen man begegnete, genauso kleinbürgerlich getuschelt wie über „175er“. Und die alten Linien der Spaltung wirkten noch lange nach – in der Gesellschaft, in den Volksparteien.

Mein Großonkel Josef Holl, später Vorsitzender der SPD im Kreis Merzig-Wadern und Landtagsabgeordneter, bekannte noch Jahrzehnte später – in einer von der Stiftung Demokratie gefertigten Tonaufnahme – dass der Kampf für das „Nein“ ihn in der SPD sozialisiert habe. Diese aktive Politisierung im demokratischen Kontext war für ihn vermutlich ebenso prägend wie für mich die Friedensbewegung in den achtziger Jahren. Und so ging es wohl nicht nur ihm.
Übrigens, ich verorte auch die Tradition, dass sich CDU und SPD im Saarland (im Unterschied zu anderen Bundesländern, man denke nur an die Geschichte Schleswig-Holsteins) nie bis „aufs Messer“ bekämpft haben, sondern immer wechselseitig, in welchen Mehrheitsverhältnissen auch immer, ein „divide et impera“ praktizierten, exakt in der Erfahrung dieses heftigen Abstimmungskampfes.
Auch wenn die Mehrheit zum „Nein“ 1955 deutlich war: Alle politischen Farben der Mitte im Saarland haben seitdem – ob bewusst oder unbewusst – nie wieder eine Wahlkampagne geführt, die aggressiv den Gegner bekämpfte. Und die großen Wahlsiege – von Franz-Josef Röder, von Oskar Lafontaine, von Peter Müller, von Annegret Kramp-Karrenbauer und von Anke Rehlinger – waren allesamt darauf angelegt, das jeweilige Momentum des saarländischen Zusammenhalts erfolgreich auf sich zu projizieren – und waren nie auf die Zerstörung des Gegners fixiert.
Auch eine Ebene drüber, innerhalb der deutschen und der französischen Regierung, wurde sich angesichts der Saar-Abstimmung nicht mit Ruhm bekleckert. Unterhalb der großen politischen Erzählung – Aussöhnung, Selbstbestimmung der Saarländer, Europäisierung – liefen durchaus bemerkenswerte Prozesse ab. Während Adenauer sich mit Mendès-France auf die angebliche Wunschkonstellation Saar-Statut einigte, arbeiteten die Franzosen mit Softpower und Jakob Kaiser, Minister für gesamtdeutsche Fragen mit harter D-Mark gegen den Kompromiss. Kaiser finanzierte wesentlich die Kampagne der Nein-Sager – also quasi die Gegenposition zu der seines Bundeskanzlers und Parteivorsitzenden. Die Gehlen-Leute sollen auch mitgemischt haben. Auch hier verbarg sich manch Abgrund.
Und doch, wie Anke Rehlinger am heutigen Tag schreibt: das europäische Statut scheiterte, aber das Saarland versteht sich heute mehr denn je als europäische Region. Als Teil der Großregion. Als Brücke zwischen Deutschland und Frankreich. Historisch, geografisch, politisch, kulturell, ökonomisch. Spätestens mit dem Inkrafttreten von Schengen vor genau 30 Jahren ist unsere Grenzlage vom ewigen Nachteil zum dauerhaften Vorteil geworden.

Vergessen darf man dabei nicht: Es hat lange gebraucht, bis aus dem Leben an der Grenze ein Leben „auf der Grenze“ wurde, wie Reinhard Klimmt es einmal bezeichnete. Es war nicht plötzlich da, nach dem Ende der Abstimmung. Es brauchte unzählige Städtepartnerschaften, Jugendaustausche, Uni-Initiativen, Kulturangebote, persönliche Kontakte und nicht zuletzt das Entstehen eines gemeinsamen Immobilien- und Arbeitsmarktes, um aus den durch das Wort „Saarfranzosen“ einst gedemütigten Grenzbewohnern ein stolzes „Baguette&Basilikum“-Völkchen zu machen. Und die absurde Corona-Grenzschließung vor fünf Jahren machte binnen Tagen klar, wie leicht und schnell alte Ressentiments wieder abrufbar werden können.
In einer Welt, die beinahe täglich neu vermessen wird, drängen sich im Heute Fragen auf: Wie tragfähig ist der Zusammenhalt der Saarländerinnen und Saarländer wirklich noch angesichts eines Strukturwandels, der breiter und tiefer ist als alle zuvor? Wie lange hält der common sense der politischen Mitte (der von außerhalb des Saarlandes gerne auch als Klüngel verunglimpft wird) angesichts des Eskalationsdrucks sozialer Medien und dem steigenden Einfluss extremistischer Parteien? Mit wie viel Verve legen wir zukünftig Wert auf gute Nachbarschaft mit Europa, mit Frankreich, mit der frankophonen Weltgemeinschaft und mit unseren Partnern in der Großregion?
Nichts ist für die Ewigkeit und auch im Saarland ist das „Ende der Geschichte“ nicht erreicht. Deshalb geht es 70 Jahre nach der Saar-Abstimmung nicht um das alte „Was wäre, wenn …“, sondern um das „Was wird morgen sein?“ Die eine Frage blickt zurück, die andere nach vorn. Und genau zwischen beiden – im Hier und Jetzt – entscheidet sich, ob uns das, was uns einst gespalten hat, künftig weiterhin zusammenführt. Es geht wieder ums große Ganze. Für mich als Mitfünfziger, der den Großteil seines aktiven politischen Lebens bisher im „Fukuyama“-Zustand verbracht hat, beginnt Veränderung mit der schlichten Einsicht, dass sie kommen wird, oder besser, schon da ist: technologisch, ökonomisch, medial, politisch. Und das in einem Ausmaß, der das Zeug dafür hat, unsere kleine Welt ziemlich ins Wanken zu bringen. Es wird, es ist ungemütlich. Es kam lange schleichend und wird lange sein, nicht wie bei der Saar-Abstimmung: kurz und heftig. In zwei Jahren werden wir stolz auf 70 Jahre als Bundesland zurückblicken. Den Stolz auf die Geschichte unseres Bundeslandes, unserer Region als Strukturwandelweltmeister wird uns niemand nehmen können. Wie schön wäre es, wenn sich der Stolz aufs Vergangene mit Zuversicht auf Zukunft paart. Und zwar nicht eine Zukunft, die auf Spaltung, Ausgrenzung und Abgrenzung beruht, sondern eine tatsächliche, die auf Zusammenhalt baut. Das wird ein hartes Stück Arbeit, dessen werden sich viele erst langsam bewusst. Aber es ist nicht zu spät, zumindest dann, wenn sich nicht zu viele in der Suche nach Sündenböcken verlieren, sondern mitgestalten an Zukunft und Zusammenhalt.

