Es ist der ewige Wind, der in Erinnerung bleibt. Hoch oben, auf dem Plateau der Bergehalde „Duhamel“ bei Ensdorf, dort wo sich das „Saar-Polygon“ befindet, weht er ungeschützt, unaufhaltsam und immerwährend. Im Herbst und Winter kalt, im Sommer oft erfrischend. Kaum oben angekommen, nehme ich auf der ersten Steinbank Platz, die den Wanderer nach dem steilen Anstieg begrüßt. Ich schaue von hier aus Richtung Polygon, Richtung Saartal, Richtung Grenzhöhen. Wie so oft kommt dabei der Wind von Westen, bläst mir ins Gesicht und weitet meine Gedanken in einer Zeit, die Weite braucht, um begreiflich zu bleiben.
Es ist heiß und schwül heute, aber der wie immer starke Wind auf dem Plateau der Halde hat sofort etwas Erfrischendes. Ich schließe die Augen und wähne mich für einen Moment am Meer, an der Küste irgendwo fernab im Süden oder Südosten. Ja, ich erinnere mich. So ähnlich fühlt es sich an, wenn ein Seewind die Wärme des Tages erträglich macht. Das Reisen an diese Orte scheint in diesen Zeiten wie ein Relikt der Vergangenheit zu sein. Hier oben aber fehlt das Salzige in der Luft. Dieser Gout hat sich längst aus der einstigen Atlantikluft verabschiedet, wenn sie als Westwind das Polygon erreicht. Und erinnert mich: Wir bleiben zu Hause und warten auf den Wind. In diesem Sommer, wohl auch im Winter, und wer weiß, vielleicht auch im nächsten Jahr? Keiner kann sagen, was wirklich sein wird. Mit dem Reisen. Mit dem Leben. Mit dem Überleben. Nur viele ahnen, dass es weiter und länger anders bleibt als erwartet.

Auf der Bergehalde Duhamel am Saar-Polygon, 300 Meter üNN.
Das Saar-Polygon ist meine Landmarke, mein Hafen auf einer Halde, 300 Meter über dem Meeresspiegel. Errichtet auf dieser Bergehalde des ehemaligen Bergwerkes Endorf, später Bergwerk Saar, erinnert es an eine andere Zeit der Veränderung: das Ende des Bergbaus, der diese Region mindestens so weit geprägt hat, wie man vom Polygon aus seit 2016 blicken kann. Und mahnt zugleich, die Zukunft des Saarlandes neu zu gestalten. Nicht nur zurückzublicken, sondern nach vorne. Und das gilt mehr denn je auch heute. Lange, viel zu lange schon habe ich mich in diesem außergewöhnlichen Jahr 2020 kaum aus der Sichtweite dieser Landmarke entfernt. Nach vielen Jahren anderswo und unterwegs beschränken die Lage und mein Respekt vor dieser Lage meinen Radius auf die wenigen Kilometer dieses „Duhamel-Zirkels“. Ich schaue rüber zum Litermont, schaue Richtung Schaumberg, erahne Saarbrücken und kann fast das Haus meiner Familie ausmachen, unten im Saartal. Da drüben ist Luxemburg, wo man sich in diesen Tagen fast schon als wilder Abenteurer fühlt, wenn es dorthin nur zum Tanken und zum Einkaufen geht – 500 Meter hinter der Landes- und Staatsgrenze. Und: Dass man keineswegs sicher sein kann, ob man auch morgen noch diese nahe Grenze unbehelligt passieren kann.

Vor wenigen Jahren stand ich mit meiner Frau am Grenzübergang von Thailand nach Kambodscha, im untersten Zipfel des elefantenkopfförmigen Landes, bei Trat am Golf von Siam. Wir wollten „kurz mal rüber nach Kambodscha“ um die Lage zu checken und so. Die für mich umfangreichen Grenzanlagen mit Passierstellen und Kontrollen hielten uns davon ab. Eine Passage nach Kambodscha mit einem in Thailand zugelassenen Pkw? Unmöglich. Die Auswirkungen eines Kurztrips auf meinen thailändischen Aufenthaltstitel? Unklar. Die Dauer des Ein- und Ausreise-Procedere? Unbekannt. Also blieben wir diesseits der Grenze und ich beobachtete die Szenerie mit einem nostalgischen Lächeln.
Ja, vielleicht war auch ein wenig innereuropäische Überheblichkeit dabei. Grenzkontrolle? Visa? Verbotene Auto-Transfers? Wie rückständig, wie aus der Zeit gefallen kam mir diese Szenerie vor – damals. Obwohl die beiden Länder dem Asean-Staatenverbund angehören, waren und sind sie von einem freien Verkehr von Menschen, von Waren, von Handel weit entfernt, obwohl es an bedeutenden Grenzorten sogenannte „Bordermarkets“ gibt, in denen quasi zoll- und steuerfrei gehandelt werden kann. Bei aller Liebe zu Asien: was für ein großes Glück ist es doch, im Herzen des „alten Europa“ zu wohnen und grenzenlos zu reisen, zu wirtschaften, willkommen zu heißen und willkommen zu sein. „Ein Kontinent der guten Nachbarn“ war Europa geworden – nach so vielen und so langen anderen Zeiten. So dachte ich damals und, ja, belächelte und bedauerte Thais und Kambodschaner am Grenzübergang ein wenig, wie schwer sie sich es immer noch gegenseitig machen.

Mitten im historischen Tempelgelände von Prasat Ta Moan Thom (Provinz Buriram) sind Thailand und Kambodscha durch Warnschilder, Zäune, Sichtschutz und Soldaten getrennt.
Nie im Traum hätte ich mir an jenem Tag – vor etwa zehn Jahren – und an allen folgenden Tagen, an denen ich weiter nördlich mal wieder mit einem kambodschanischen Schlagbaum oder – mitten in einer historischen Tempelanlage – mit am Grenzverlauf entlang patrouillierenden thailändischen Soldaten konfrontiert wurde, vorstellen können, dass sich der Innenminister meines Heimatbundeslandes gleich mehrfach öffentlichkeitswirksam an der saarländisch-lothringischen Grenze postiert und die „Wacht am Rhein“ ins 21. Jahrhundert katapultiert.
Sicher, die Corona-Pandemie ist eine Ausnahmesituation – eine langwierige allerdings. Aber als „naiver“ europäischer „Gutmensch“ ging ich bisher davon aus, dass sich Krankheiten, Viren, Infekte von Mensch zu Mensch und nicht von Land zu Land übertragen. Noch vor wenigen Monaten schrieb ich im ersten Beitrag dieses Blogs über die Wiederentdeckung dieses einzigartigen, grenznahen innereuropäischen Gefühls zwischen Metz und Saarbrücken, Luxemburg und Trier, Strasburg und Namur, das ich neu erleben durfte nach der Rückkehr aus der angeblich multikulturellen Hauptstadt Berlin, in der die Ethnien jedoch viel zu oft nur nebeneinander und nicht miteinander leben. Wie froh war ich über meine Rückkehr in die heimatliche Grenzregion, wo ich Feindschaft, Misstrauen, Ressentiments und Trennendes überwunden glaubte. Da wo man Europa und den Frieden, die Gemeinsamkeiten, die Liberalität und die Weltoffenheit dieses Kontinents fühlen könne mehr als anderswo und stolz darauf sei – dachte ich. Hier schlug doch das Herz der europäischen Idee, der Werte, Ziele und Wege, die man gemeinsam inzwischen sogar innerhalb der europäischen Union verteidigen muss. Und ausgerechnet hier musste ich – wenige Monate nach meiner Rückkehr – erleben, dass die Schlagbäume sich senkten, Barrieren und Kontrollen errichtet wurden, die ich so seit 30 Jahren nur mehr von meinen Reisen in weniger geeinte Gegenden der Welt kannte.
Dieser Schock sitzt noch immer tief. Ausgerechnet die vielleicht größte Herausforderung seit dem 2. Weltkrieg bringt zunächst nicht mehr, sondern weniger europäische Einigung? Sie identifiziert die „guten Nachbarn“ als Problem und nicht als MItstreitende? Sie spaltet Völker statt einer weltweiten Herausforderung, die jedes Land in gleicher Weise betrifft, gemeinsam Herr zu werden? Mitten im 21. Jahrhundert, das manch einer schon vorschnell als das „Ende der Geschichte“ wähnte?

Es ist einsam, hier oben auf dem Saar-Polygon. Die wenigen Besucher verlaufen sich auf der ausladenden Plattform. Es kostet nämlich schon Mühe, hier nach oben zu stiefeln – den einen mehr, die andere weniger. Für mich ist das Polygon nicht nur eine Landmarke. Es ist ein Rückzugsort in dieser unübersichtlichen Zeit, die alles in Frage stellt, kein „Zurück“ offeriert, sondern zu dauerhaften Veränderungen führen wird – Veränderungen, die bereits begonnen hatten, aber jetzt immens beschleunigt werden. Wie unglaublich beruhigend ist es da, jeden Morgen aus dem Fenster meines Dachgeschosses zu schauen und den Tag mit einem Blick auf das Polygon zu beginnen. Tatsächlich ist diese kaum fünf Jahre alte Landmarke nun ein Ankerblick für mich geworden. Ein Halt. Ein wirklich heimatliches Symbol. Aber eben nicht ausgrenzend, sondern einladend. Nicht nur der Blick vom Polygon führt hinüber nach Frankreich – und wenigstens dieser Blick war nie ansteckend und nie verstellt – auch unten im Tal, unterm Saar-Polygon, hat Heimat für viele eben keine ausgrenzende, sondern eine einladende Bedeutung. Kaum 500 Meter vom Polygon-Parkplatz entfernt findet sich eine Thai-Massage. Viele Arbeitsmigranten und ihre Familien, die in den letzten 50 Jahren in diese Region kamen, haben ins Ensdorf, Hülzweiler, Fraulautern, Roden oder den anderen Orten in der Industrielandschaft unterm Polygon eine neue Heimat gefunden und blicken – genauso wie ich – täglich nach oben rauf und vielleicht gelegentlich von oben runter. Der Sohn des ehemalig erfolgreichen syrischen Lkw-Händlers aus Aleppo, der heute in Lebach als Wachmann jede Nacht seine Familie ernährt, besucht in Fraulautern am Fuße der Bergehalde dieselbe Grundschulklasse wie mein Sohn, der – in Berlin geboren – sicher nicht so aussieht, wie sich leider immer noch viel zu viele einen „echten deutschen Jungen“ vorstellen.
Oben, auf dem Polygon, nach dem Aufstieg und beim Ausblick wirken tatsächliche und „gefühlte“ Unterschiede so unglaublich relativ, wie sie es in Wahrheit auch sind. Ganz klein werden sie, so klein wie sie wirklich sind. Der Wind weht die Aerosole in alle Himmelsrichtungen und die Sonne lädt kostenlos zum abendlichen Spektakel über dem Saargau und den lothringischen Hügeln ein. Weiter gehen meine Reisen derzeit nicht, im Bann der Pandemie. Ich leide nicht an zu viel, sondern an zu wenig Fremdem. Ich bin und bleibe ein Kind der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts als die Welt nicht besser war, aber ich und viele andere das Gefühl hatten, wir könnten sie besser machen – Stück für Stück, jedoch unaufhaltsam. Ich sitze auf einem von Menschen geschaffenen Berg und überlege, ob das immer noch so ist, mit dem Wunsch und dem Ziel des Bessermachens. Oder wenigstens wieder so werden könnte. Und wünsche mir, dass andere – so wie ich – auch einen Anker, einen Halt, einen Ort finden, der ihnen ein bisschen mehr persönliche, politische, gesellschaftliche Sicherheit und Gelassenheit gibt, damit sie nicht ganz so laut schreien müssen, nicht ganz so misstrauisch sein müssen, nicht ganz so unemphatisch fühlen müssen, sich und andere nicht ganz so unversöhnlich quälen müssen in ihrem Leben. Dass sie unter „Bessermachen“ wieder einen Prozess verstehen, von dem man sich nicht bedroht oder benachteiligt fühlt.
Vielleicht könnte ein Gang aufs Polygon und ein paar Augenblicke hier oben allen helfen? Meistens sind mehr Sitzplätze frei als benötigt für diejenigen, die ihre Chance zu einem „Abtauchen nach oben“ einmal nutzen wollen. Die Kargheit des Plateaus, die Schnörkellosigkeit des Polygons, die Weite des Blicks und der Anblick des quirligen Tales zwischen Hügeln und Fluss, Feldern und Stahlhütte, Stadt und Wald lädt ein, sich abzuregen – und sich anregen zu lassen. Es ist ein besonderer Ort. Trotz Handy-Empfang.
Und wenn ihr mich mal sucht: Fangt dort oben an. Am Saar-Polygon. Ich bin der mit der Kamera und dem Blick aus dem letzten Jahrhundert.

Danke für den lesenswerten Text
Unsererseits herzlichen Dank zurück für das Lob.