Sümpfe und Wiesen. Vor etwas mehr als 340 Jahren war von Saarlouis im unteren Saartal noch nichts zu sehen. Wallerfangen war dagegen damals schon ein Hotspot in der Region: mit Tradition und vitalem Leben rund um seine Abtei. Und gegenüber – am rechten Saarufer – haben sich bis zur Gründung von Saarlouis die Orte Fraulautern und Roden bereits organisch entwickelt.
Doch dann kamen Thomas de Choisy, der später erster Gouverneur von Saarlouis werden sollte, und Baumeister Vauban und erschufen im Auftrag des Sonnenkönigs eine französische Festungsstadt aus dem Nichts, eben in jenen Sümpfen und Wiesen entlang der Saar. Sie hatten eine Vision für Saarlouis. Gibt es die heute auch?
Dieser Tage entscheidet sich die Zukunft von Saarlouis womöglich ausgerechnet auf einer Anhöhe, von denen die heutige Kreisstadt im Saartal gar nicht so viele hat. Bis zum 18. April sind die Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt aufgerufen, sich per Befragung für oder gegen eine Erweiterung des bereits bestehenden Industriegebietes „Lisdorfer Berg“ auszusprechen, das an der B269N gelegen ist, die französisches und deutsches Autobahnnetz miteinander verbindet.
Dabei geht es um mehr als die 50 Hektar landwirtschaftlich intensiv genutzte Ackerfläche, um die das jetzt schon bestehende und in inzwischen voll belegte Wirtschaftsgebiet, das derzeit sogar schon 164 Hektar umfasst, ergänzen werden soll. Es geht auch um ein Symbol, eine Zukunftsfrage; um die Frage, wie sich der über Jahrhunderte von wechselnden Monostrukturen geprägte Wirtschafts-, Arbeits- und Lebensstandort Saarlouis entwickeln soll. Oder eben auch nicht.

Dabei hat die Veränderung eigentlich Tradition in Saarlouis. Von Beginn an. Die Stadt ist aus geradezu unerbittlichem Veränderungswillen, aus einer Vision heraus entstanden, der von de Choisy und Vauban. Nicht organisch wachsend, sondern durch einen Kraftakt von kaum mehr als einem Jahr. Saarlouis entstand so innerhalb kürzester Zeit als neue, moderne Festung an Frankreichs Ostgrenze. Lange wurde nach dem richtigen Ort für diese neuartige Trutzburg gesucht. Hier wurde man fündig. Und errichtete einen Neubau im Morast, trotz mancher Skeptiker in Paris.
Natürlich spielten einst Themen wie Flächenversiegelung oder Kaltluftzonen noch keine Rolle. Was erforderlich erschien und für richtig erachtet wurde, war zu vollziehen. Ohne Anhörungen, Abstimmungen oder rechtlich bindende Verfahren, ohne Verträglichkeitsprüfungen, Gutachten oder andere Vorbehalte.
Diese Zeiten sind zum Glück vorbei. Heutige bauliche Veränderungen, sogar auf privaten Grund, unterliegen zu Recht einer Vielzahl von Genehmigungsvoraussetzungen, in denen wichtige ökologische, ökonomische und soziale Aspekte Berücksichtigung in einem für alle Betroffenen transparenten Verfahren finden.
Die Zeit der Visionen ist dagegen hoffentlich nicht vorbei. Denn die Herangehensweise aus den Anfangszeiten der Stadt Saarlouis, die beeindruckende Weitsicht und der Pioniergeist der beiden Väter von Saarlouis könnte trotzdem ein Vorbild sein, wenn es darum geht, die Zukunft der Stadt zu gestalten.
Mut, Vision und die Einsicht in die Notwendigkeit von Veränderungen passen nämlich besonders gut in einer Zeit besonderer Herausforderungen, wie wir sie derzeit alle erleben. Damit ist übrigens nicht in erster Linie die aktuelle Pandemie gemeint. Ihre Folgen sind nur der Brandbeschleuniger einer Entwicklung, die schon lange eingeleitet ist und bei der es jetzt darauf ankommt, nicht zu spät zu kommen. Und diese Entwicklung wird vor allem diejenigen Wirtschaftsgebiete treffen, die traditionell von Monostrukturen beherrscht werden, also wenig Diversifizierung in ihrer Wirtschaftslandschaft kennen. Und das ist zweifelsohne in Saarlouis und seiner Region der Fall, übrigens ebenfalls seit dem Beginn der Stadtgeschichte Ende des 17. Jahrhunderts.
Als Festung und Garnison entstanden, war es das Militärische, von dem das Wohl und Wehe von Saarlouis in den ersten beiden Jahrhunderten seines Bestehens abhing. Hatte die Aufrüstung Hochkonjunktur, ging es auch Saarlouis gut. Standen die Zeichen auf Entspannung oder verschoben sich die Grenzen, so wirkte sich das sofort auch auf die städtische Konjunktur, auf Armut und Reichtum, Vitalität und Wachstum innerhalb der Stadt aus. Kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen, so war Saarlouis selbstredend oft mindestens der organisatorische Mittelpunkt dieser Aktivitäten. Dies gilt zumindest für die Innenstadt der heutigen sogenannten heimlichen Hauptstadt des Saarlandes und für die anderen Saarlouiser Besiedlungen links der Saar.
Denn die der Kernstadt in die Wiege gelegte Monostruktur wurde spätestens vor 200 Jahren durch eine neue abgelöst, diesmal weniger kriegerisch, sondern vielmehr industriell. Und diesmal nicht von der Kernstadt ausgehend, sondern von den lange Zeit eigenständigen Orten Roden und Fraulautern. Die beiden Siedlungen rechts der Saar blicken nicht nur auf eine viel längere Geschichte zurück als die Saarlouiser Kernstadt. Der Saarlouiser Unterschied in links und rechts der Saar erschöpft sich vielmehr bis heute keineswegs nur auf diese unterschiedlichen historischen Entstehungsverläufe. Saarlouis, obwohl mit rund 35.000 Einwohner*innen alles andere als eine Metropole, ist eine Stadt mit sehr verschiedenen Gesichtern.

Bisweilen erscheinen die Stadtbilder von Fraulautern und Roden auf der einen und die Szenerie in der City auf der anderen Saarseite wie zwei verschiedene Welten. Während man in der Saarlouiser Innenstadt verträumt und lieblich auf verkehrsberuhigten Wegen zwischen Pieper und kleinem Markt, zwischen Altstadt und Kasematten, zwischen Theater am Ring und den drei Gymnasien trefflich genuss- und bildungsbürgerlich flanieren kann, sind auf der anderen Seite die Orte Fraulautern, Roden und auch der neu entstandene „Steinrausch“ in vielfacher Hinsicht geprägt von den Zwängen der wirtschaftlichen Monostruktur, die der Militärischen folgte: Kohle, Stahl und Automotive.
Mit Dillinger Hütte und Ford-Werk im Norden und dem einstigen Bergwerk und dem ehemaligen Kraftwerk Ensdorf im Süden ist das Saarlouis rechts der Saar nicht nur optisch und tatsächlich eingefasst von aktueller und vormaliger Montan- und Autoindustrie. Auch die Orte selbst sind davon geprägt, zumal sich industrielle Produktion – insbesondere in Fraulautern – nicht nur auf die Peripherie beschränkt, sondern sich eine Vielzahl von großen und kleinen Produktionsstätten mitten im Ort, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Wohnbebauung befinden – mit den entsprechenden Auswirkungen für Stadtbild, Architektur, Sozialstrukturen und Lebensumstände. Wo gibt es schon – wie in Fraulautern – eine Grundschule, die sich von allen Seiten die Zufahrt mit einem Industriebetrieb und dessen tonnenschweren Zu- und Auslieferungsverkehr teilt und deren Schulleitung Eltern und Schüler ermahnt, aufgrund des Schwerlastverkehrs nicht mit dem Fahrrad zu kommen und daher explizit die Aufstellung von Fahrradständern auf dem Schulgelände verweigert: Zu gefährlich!
Hier, rechts der Saar, ist Saarlouis Industriestadt, kleines Ballungszentrum – weit weg von den vermeintlich sanften Hügeln und pittoresken Altstadt-Gassen links der Saar. Und hier wird die Prägung der Stadt und der Region Saarlouis durch Montanindustrie und Automobilfertigung überdeutlich.

Aber genau hier steht Saarlouis, steht das ganze Saarland, ja steht der Industriestandort Deutschland insgesamt vor einem gigantischen Transformationsprozess. Schon das Ende des Bergbaus und die vielen „Ups and Downs“ der letzten Jahrzehnte in der Stahlindustrie haben das Saarland und die Region Saarlouis in einen strukturwandelnden Dauerzustand versetzt. Fortsetzung folgt: jetzt ist Automobilindustrie dran.
Mobilität wird sich nämlich wandeln. Das hat viel, aber nicht nur mit Klimaschutz zu tun. Ebenso schwergewichtig wirken sich die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung in Produkten, Produktionsabläufen und Geschäftsmodellen des Automotiv-Bereiches aus. Es geht nicht nur um zukünftige Antriebsformen. Es geht um eine völlige Neuausrichtung der Mobilität, die unsere Fortbewegung genauso radikal verändern wird wie das Digitale unsere Kommunikation verändert hat: bahnbrechend und disruptiv.
Eine ganze Reihe von automobilen Unternehmen – von Daimler über ZF oder Byton bis zu Bosch – haben inzwischen endlich verstanden, dass Mobilität der Zukunft – klimaschützend, menschenschützend, umweltschützend, ressourcenschützend – durch technische Innovation möglich ist und kommen wird. Auch Ford zählt – mit Verspätung – seit neustem dazu. Angesichts dieser Zukunftsperspektiven wirkt mein Verbrenner vor der Haustür schon heute reichlich antiquiert – eine Art Scheibentelefon auf Rädern sozusagen. Zwar werden wir den Verbrennerantrieb noch eine Weile brauchen. Das ist gut fürs Saarland und für Saarlouis, weil es die Chance für einen geordneten Transformationsprozess schafft. Aber lange werden Fahrzeuge mit dieser Antriebsform nicht mehr auf dem Markt sein und von Öl mit einem unter 50prozentigem Wirkungsgrad angetrieben werden. Damit wird das Saarlouiser Fordwerk nicht automatisch Geschichte. Im Gegenteil. Jetzt müssen die Weichen gestellt werden, damit auch zukünftige Mobilitätsprodukte „Made in Saarlouis“ sind. Ford wird das Werk nicht wie eine Frittenbude schließen und auch nicht schließen dürfen: aus Verantwortung gegenüber einer Region und den Menschen in der Region, die dem Werk fast alles gegeben haben. Der Kampf mit und um Ford für eine Perspektive auf dem Röderberg muss geführt werden und kann erfolgreich sein. Aber das Werk wird sich verändern. Seine Produkte werden andere sein und es ist dabei davon auszugehen, dass für andere Fertigungsprodukte und andere Fertigungsprozesse im Werk deutlich weniger Arbeitskräfte benötigt werden als heute.
Um so wichtiger ist es, Alternativen zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Saarlouis und zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu realisieren. Die Stadt, die Region braucht eine Zukunftsvision. Diversifizierung und Digitalisierung sind die Schlagworte, eine Abkehr von der Monostruktur, ein Nutzen aller Chancen und Möglichkeiten, die sich neu bieten.
Dazu braucht man aber einige Voraussetzungen: engagierte Arbeitgeber*innen und Investor*innen, die einer Region vertrauen können, veränderungsbereite Arbeitnehmer*innen, eine gezielte Wirtschaftsförderung und eben auch: neue Flächen! Denn man sollte nicht den Eindruck erwecken, dass man die Industrie, die da ist, aus der Stadt jagen will. Das wäre genauso falsch wie darauf zu warten bis sie verschwunden ist und dann erst nach Neuem zu suchen.

Neue Flächen ergeben sich übrigens selten aus der Vogelperspektive „mit´em Finger uff da Landkart“ wie man saarländisch zu sagen pflegt. Gerne wird auf bestehende Industriebrachen oder ehemalige Anlagen als Alternativen zum sogenannten „Gewerbegebiet auf der grünen Wiese“ verwiesen. Grau ist dabei alle Theorie, wie die Beispiele Laminate-Park Heuweiler auf der einen und Kraftwerk Ensdorf auf der anderen Seite zeigen. Es kommt auf die jeweiligen Voraussetzungen an. Und eine bisherige Energieindustrie-Fläche kann etwa nicht so ohne weiteres für neue Ansiedlungen genutzt werden, aus ganz unterschiedlichen Gründen.
Und wer weiß: vielleicht wären die Vorbehalte etwa der Ansiedlung einer Batteriefabrik auf Konversionsflächen genauso groß wie an anderer Stelle, auf der angeblich grünen Wiese. Aber einer Salamitaktik, die jede Form von Neuansiedlung, von neuer Technologie oder neuen Investoren am jeweils vorgesehen Ort bis zur finalen Verhinderung hinterfragt, wird zu einer Deindustrialisierung von Saarlouis, der Region, des Saarlandes und letztlich von Deutschland führen, die am Ende die Basis unseres Gemeinwesens zerstört. Insofern ist es interessant, sich die Argumentationslinien der letzten anderthalb Jahrzehnte von Kraftwerk Ensdorf, Nemak Dillingen, Lisdorfer Berg bis hin zum Linslerfeld in Überherrn zu vergegenwärtigen. Denn sie führen schlimmstenfalls dazu, dass vielleicht noch Cornflakes-Fabriken wie in Überherrn angesiedelt werden können, die nur durch den permanenten an Oma´s Marmorkuchen erinnernden Geruch für die Diätbemühungen der Diabetiker gefährlich sind, aber ansonsten ausreichend harmlos erscheinen, um ihnen ein paar Quadratmeter von zuvor intensiv landwirtschaftlich genutzter Ackerfläche zu überlassen. Weder Salami-Taktik noch Sankt-Florians-Prinzip sind jedenfalls geeignet, um Menschen Brot und Arbeit zu verschaffen.
Oben, auf dem Lisdorfer Berg, da wo mich beim Walken gelegentlich die ewige Kaltluft nach Marmorkuchen aus Altforweiler riechend umweht, besteht in Wahrheit keine Gefahr, dass idyllische Landschaft „verschandelt“ wird, Wanderwege verloren gehen oder eine Kopie der Dillinger Hütte entsteht. Gesetzliche Auflagen, moderne umwelt- und klimagerechte Gestaltung von Gewerbebereichen, Unternehmen auf dem neusten Stand von Digitalisierung und Fertigung, Reinraum-Produktionen oder neue Geschäftsideen jenseits der Hüttenfeuer können für Wohlstand sorgen. Und werden nicht mehr die Zustände schaffen, die etwa in Fraulautern und Roden mit einem zwar gewachsenen aber dennoch antiquierten Mix aus Wohnbebauung und Industrie bis heute vorherrschen und wo die Kritik an einem Abstandsgebot von „nur“ einem Kilometer bis zur Wohnbebauung wie blanker Hohn klingen muss.
Die Abstimmung über den „Lisdorfer Berg“ ist genau deswegen zu einem Symbol dafür geworden, ob Stadt und Region Saarlouis bereit sind, Wirtschaftsstandort zu bleiben und moderner Industriestandort zu werden.
Saarlouis kennt übrigens neben den historischen Figuren de Choisy und Vauban, deren Existenz verbürgt und deren Engagement belegt ist, auch historische Figuren, für die es zwar reale Vorbilder gegeben haben könnte, die ihren Ruf aber vor allem der volkstümlichen Legende verdanken. Der „Erzlügner“ Tonton und der französische Soldat Lacroix zählen zu diesen „sympathischen Losern“, die den Saarlouisern ans Herz gewachsen sind, weil sie es – tatsächlich oder vermeintlich – in der Stadtgeschichte haben menscheln lassen.
Während in Erinnerung an Tonton alljährlich zum Auftakt des Saarlouiser Altstadtfest ein nach ihm benannter Preis für den besten Flunkerer des vergangenen Jahres verliehen wird – eine insbesondere unter Lokalpolitikern begehrte Auszeichnung – hat man dem Lacroix auf der Vauban-Insel sogar ein Denkmal gesetzt. Die Sage vom Lacroix erzählt, dass er den Abzug seiner französischen Truppen bei deren endgültiger Räumung von Saarlouis nach der Niederlage gegen die Preußen im „Befreiungskrieg“ von 1815 glatt verschlafen hatte. Möglicherweise fiel ihm das Abschiednehmen aus der Garnisonsstadt an der Saar so schwer, dass er seinen Kummer darüber am Vorabend in Alkohol ertränken musste. Als er am nächsten Tag aus seinem Rausch erwachte, waren seine Truppen längst weg und die Preußen schon da. Die Welt hatte sich während seines Tiefschlafes eindrücklich und bedrohlich verändert. Den Beginn einer neuen Zeit in Saarlouis hatte er glatt verschlafen. Im Rausch der Sinne und des schmerzhaften Abschieds von alten Gewohnheiten. Nach der Sage hatte er aber noch Glück im Unglück. Die Preußen ließen ihn der Legende nach ungeschoren ziehen. Saarlouis aber kann man für seine Zukunft nur wünschen, dass es nicht wie Lacroix die selbige verschläft, sondern wie Vauban die Visionen einer neuen Zukunft verwirklicht. Ein „Ja“ zum Lisdorfer Berg bei der Einwohner*innen-Befragung kann dazu ein wichtiger, ein symbolischer Schritt sein.

Sehr schönes Lesestück! Zu befürchten ist, dass HU es nicht bis zur letzten Zeile liest…
Danke dir. Damit ist zu rechnen, ja 😉
Der große Baumeister Demmer führte das Werk von Vauban von Ende: Wasser und Kaltluft waren nun endlich verschwunden. Es kam eine große Dürre über die Stadt während die Carbonmafia unbehelligt ihr Unwesen trieb. Die Einwohner*innen der Stadt zogen wieder nach Wallerfangen zurück und wurden glücklich. Und wenn Sie allesamt nicht gestorben sind, dann planen sie noch heute und pfeifen ihr Lied auf die nationale Nachhaltigkeitsstrategie…
Sie schreiben Ihren Kommentar zu Recht in Märchenstil. Unser Beitrag zum Lisdorfer Berg beschreibt dagegen die Realität.